Textformatierungen sind von mir (Mademlis K.) und nicht im Originaltext enthalten.
Editorial
Liebe Leserin, lieber Leser
Weshalb wissen wir eigentlich so wenig über das Reich von Byzanz - und warum ist das wenige, was wir über die christliche Großmacht wissen, derart negativ gefärbt?
So urteilte beispielsweise der deutsche Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel im 19. Jahrhundert, die Geschichte des Oströmischen Reiches sei eine
„tausendjährige Reihe von fortwährenden Verbrechen, Schwächen, Niederträchtigkeiten und Charakterlosigkeit“.
Jeder Gymnasiast lernt im Geschichtsunterricht die großen römischen Imperatoren kennen:
Augustus,
Hadrian,
Diokletian.
Aber kaum ein Lehrer erzählt von den byzantinischen Herrschern, die doch - im Guten wie im Schlechten -
ähnlich herausragende Regenten,
grausame Despoten und brillante Strategen waren.
Im Jahr 565, beim Tode Justnians, ist Byzanz so groß wie noch nie zuvor - und nie mehr danach. |
Etwa Justinian I., der den Auftrag gab, das gesamte römische Recht zu sammeln, und der damit eines der wichtigsten Gesetzeswerke aller Zeiten schuf.
Dem es darüber hinaus im 6. Jahrhundert gelang, das Imperium Romanum in weiten Teilen wiederherzustellen; der Italien zurückeroberte und auf drei Kontinenten herrschte.
Aber Kritiker wie Hegel scheinen solche Erfolge byzantinischer Staatsmänner weniger zu interessieren als Klatschgeschichten über den Hof in Konstantinopel.
Bestätigen doch Kolportagen über Palastintrigen, hinterhältige Eunuchen und machtgierige Kaiserinnen sehr viel besser die Vorurteile des Westens über die vermeintliche Dekadenz des Orients.
(Während der Cäsarenwahn eines Caligula oder Nero das antike Imperium nur noch faszinierender erscheinen lässt.)
Viele dieser Klischees sind uralt,
vermutlich entstanden sie in einer Zeit,
als sich die Kirchen des Ostens und des Westens ab dem 9. Jahrhundert einander mehr und mehr entfremdeten und winzige theologische Differenzen zu einer immer tieferen Spaltung führten und schließlich zu Hass.
Die Stereotype sind zudem wohl Ausdruck eines Minderwertigkeitskomplexes im Westen.
Denn Byzanz war der mächtigste christliche Staat des Mittelalters.
Allein schon seine Dauerhaftigkeit ist bemerkenswert:
In nur kurz unterbrochener Folge herrschten
rund 90 Kaiser mehr als 1000 Jahre lang
von Konstantinopel aus über ihre Provinzen -
kein Reich auf dem Kontinent hat so lange existiert.
Der westliche Teil des Imperium Romanum ging 476
n. Chr. in der Völkerwanderung unter.
Der östliche, von Konstantinopel regierte Teil aber überlebte, trotzte immer wieder Angriffen von Hunnen, Goten, Persern, Awaren und Slawen, widerstand den Armeen des Propheten und der Seldschuken.
Und während im Westen nach den Barbarenstürmen die Städte verfielen, jahrhundertelang kein einziger Bau von Bedeutung mehr entstand, die Menschen sogar das Lesen und Schreiben weitgehend verlernten, bewahrte Byzanz die Kultur der Antike - und entwickelte sie weiter.
Das „neue Rom“ Konstantinopel hatte 400 000 Einwohner zu einer Zeit, da die Stadt am Tiber nur noch 35 000 Bürger zählte.
In Byzanz studierten Gelehrte
die im Rest Europas vergessenen Schriften
der griechischen Philosophen und Naturwissenschaftler,
fertigten Künstler die prächtigsten Ikonen und Mosaiken,
gab es eine international anerkannte Leitwährung sowie Fernhandel und Industrien für Luxuswaren wie Purpur und Seide - während die Menschen im Abendland nur eine kümmerliche Landwirtschaft betrieben.
Darüber hinaus stützten sich die Monarchen des Ostens auf eine wohlorganisierte Bürokratie, die bis in fernste Gegenden des Reiches die Befehle aus dem Zentrum umsetzte - und das in einer Ara, als die Kaiser des Okzidents noch dauernd durch die Lande zogen, weil ohne persönliche Anwesenheit ihre Herrschaft nicht aufrechtzuerhalten war.
In dem vorliegenden Heft präsentieren wir die bedeutendsten Kapitel aus der Geschichte des Byzantinischen Reiches.
Wir erzählen von dem Ausbau des am Bosporus gelegenen griechischen Städtchens Byzantion durch den Imperator Konstantin, der mit der nach ihm umbenannten Stadt um 330 ein Monument für die eigene Großartigkeit schaffen wollte.
Wir zeichnen den Lebensweg von Justinian nach, der vom Hirtensohn zum Herrn eines Weltreichs aufstieg.
Wir porträtieren einen italienischen Gesandten, der Mitte des 10. Jahrhunderts staunend durch das prachtvolle Konstantinopel wanderte.
Und wir begleiten schließlich den Abstieg von Byzanz.
Denn auch das am längsten bestehende Reich Europas war endlich: 1453 wurde Konstantinopel von muslimischen Kämpfern erobert. Byzanz ging unter, seine Kapitale aber nicht; vielmehr blieb die Stadt noch für weitere 469 Jahre das Zentrum eines Imperiums - dem der Osmanen, der Sieger von 1453.
Wie es damals weiterging am Bosporus, auch darüber können Sie bei GEOEPOCHE nachlesen: in unserem Heft über das Osmanische Reich.
Auf Seite 172 steht, wo Sie es erhalten.
Herzlich Ihr
Michael Schaper
GEO EPOCHE Byzanz